Am 16.09.2016 hielt Katharina Gräfin von Schlieffen, Direktorin des Contarini-Instituts für Mediation und wissenschaftliche Direktorin des Masterstudiengangs für Mediation an der FernUniversität Hagen, auf dem Deutschen Mediationstag in Jena einen beeindruckenden Grundsatz-Vortrag unter der Überschrift „Back to the Roots“, den ich als ihre höchst selbstkritische Abrechnung mit der deutschen Mediationsszene wahrgenommen habe. Er stellte für mich klar den intellektuellen Höhepunkt des Kongresses dar und hat viele Zuhörende, mit denen ich ins Gespräch kam, zur Selbstreflexion angeregt. Auch am 17.09.2016 waren von Schlieffens Überlegungen und Thesen noch in aller Munde.
Von Schlieffen setzte sich mit der „organisierten“ Mediation auseinander und forderte auf, die Mediation insgesamt völlig neu zu überdenken. Die Nachfrage nach Mediation sei mangelhaft, wie sie anschaulich anhand eigener Erfahrungen erläuterte. Der Mediationsmarkt sei überwiegend ein Bildungsmarkt. Der Mediation fehle die Praxis. Dem Produkt fehle so die Rückkopplung an seine potentiellen Abnehmer. Simulieren sei zur Struktur geworden, weil es kaum schulmäßige Mediationen gebe. Darum plädierte von Schlieffen für eine Rückbesinnung auf den Kern von Mediation. Dieser lasse sich nicht im Mediationsgesetz oder der neuen Rechtsverordnung finden. Ausgangspunkt müsse vielmehr die Anwendersicht sein.
Ziel aller Mediation sei Gerechtigkeit. Diese simple These hat mich selbst verblüfft; dem Gerechtigkeitsgedanken wird in der theoretischen Mediation nach meinem Dafürhalten viel zu wenig Raum gegeben. Mediation sei:
– eine gemeinsame Suche zwischen Konfliktpartnern (also Kooperation),
– unter Rücksicht auf deren jeweilige Interessen,
– für eine bestimmte Lage (also konkret),
– an deren Ergebnis sich die Teilnehmenden einvernehmlich selbst bänden (also relativ).
Dabei bezog von Schlieffen sich ausdrücklich auf das Gerechtigkeitsmodell von Aristoteles, der gesagt hat: „Die Gerechtigkeit ist also die Mitte, […] weil sie die Mitte schafft.“ Von Schlieffen befand die Mediation als Inbegriff der zwischen Menschen möglichen konkreten Gerechtigkeit, die ihre Dynamik dadurch erhalte, dass die Vorstellungen über das Gute zwischen den Parteien divergieren.
Den Mediatorinnen und Mediatoren komme dabei die Rolle der „Klugen“ zu, deren Klugheit darin besteht, die Mitte finden helfen und damit Gerechtigkeit zwischen den Parteien schaffen. Um diese Klugheit zu erlangen, müssen Mediierende vernetzt sein und die Fähigkeit zu Distanz und Reflexion besitzen, um in einem dialogischen Verfahren mit den Parteien alle verschiedenen Aspekte zu erwägen. Essentielle Voraussetzungen für dieses Können seien Praxis, Training und Haltung. Medationskultur brauche Ethos. Die Mediation müsse zukunftsoffen weiterentwickelt werden, ohne zirkuläre Aktivitäten in Verbänden und Organisationen nur um der Funktionäre Willen zu betreiben.
Von Schlieffens Ausspruch „Mediation ist Sache der Medianden“ sprach mir aus der Seele. Obwohl ich als Mediator, der seit vielen Jahren Gesellschafterkonflikte mediiert, durchaus über praktische, sogar „schulmäßige“ Fälle verfüge, halte ich einen Großteil des Diskurses über Mediation für graue Theorie, dem man oft anmerkt, dass sie gerade keine praktischen Fälle berücksichtigt.
Umgekehrt behindert die organisierte Mediation die Praxis, z.B. dann, wenn man sich beispielsweise als Steuerberater schon früh mit Mediation beschäftigt hat, als die eigene berufsständische Vertretung das Thema noch gar nicht wahrgenommen hatte, und sich darum nicht „Fachberater für Mediation“ nennen darf, ohne neuerlich einen – nun endlich vom Deutschen Steuerberaterverband auch zertifizierten – Kurs zu besuchen. Immerhin existiert in der vielzitierten Rechtsverordnung eine einigermaßen großzügige Übergangsregelung für „Alt-MediatorInnen“. Aber natürlich wird auch die wieder in den Organisationen diskutiert und kritisiert. Dabei dreht sich alles nur um die ‚Verpackung‘ und nicht das eigentliche ‚Produkt‘ Konfliktbewältigung.
Auch darum teile ich von Schlieffens Fazit: „Mediation ohne Praxis ist nichts.“
Die Mediation muss sich von der organisierten Selbstbespiegelung lösen und sich mehr darum bemühen, den Weg in die Praxis zu finden. Wir sollten weniger Energie darauf verwenden, haarscharf und akademisch zwischen verschiedenen ADR-Verfahren zu unterscheiden und mehr darauf, den ADR-Gedanken unter die Leute zu bringen. Entscheidend ist, dass es einen anderen als den Rechtsweg gibt, der den Menschen bei der Bewältigung ihrer Konflikte sehr nützlich sein kann. Aber viele wissen nicht um diese Verfahren. Die Welt braucht also mehr Veranstaltungen über Mediation, mit denen die Berufs- und Arbeitswelt erreicht werden kann, als zertifizierte Mediationsausbildungen und Mediationskongresse. Bis auf den in Jena natürlich. Denn sonst wäre diese schon lange überfällige Diskussion wohl niemals in solcher Breite angestoßen worden.
Michael Eichhorn